Von klein auf sollten Hunde ihre Erfahrungen machen können – je mehr, desto besser. Denn das unterstützt eine langfristige und gute Beziehung zu ihren Menschen und Artgenossen. Doch Sozialisierung ist viel mehr als nur eine Welpengruppe zu besuchen, sondern ein Prozess, der ein Hundeleben lang anhält.
„Sozialisierung bedeutet das Kennenlernen der belebten und unbelebten Welt. Außerdem geht es darum, soziale Bindungen von Individuen aufzubauen, die sich im Zuge sozialisatorischer Beziehungen bilden“, erklärt Maike Frenzel von der Hundeschule „hundeglücklich“. Im Klartext heißt das: Ob ein erwachsener Hund zuverlässig und ausgeglichen ist, hängt auch davon ab, wie aktiv sich der Halter mit ihm beschäftigt.
Die soziale Entwicklung des Welpen
Ab der dritten Woche beginnt für die kleinen Pfoten die Konfrontation mit Reizen. Jetzt bildet sich ihr Geruchs-, Tast-, Hör- und Sehsinn aus. Entscheidend in dieser Zeit sind das Verhalten der Hundemutter und die Erfahrungen mit den Geschwistern. „Auch der Züchter sollte langsam damit beginnen, die Kleinen entsprechend ihrer psychischen und physischen Bewältigungsfähigkeit zu fördern. Dabei ist es wichtig, sie nicht zu überfordern, sondern sie selbst entscheiden zu lassen, wie intensiv sie sich mit den Reizen auseinandersetzen wollen“, so die Verhaltensexpertin.
Die eigentliche Sozialisierungsphase findet von der 4. bis ungefähr zur 14. Woche statt. In dieser Zeit ist die Lernfähigkeit des Hundes von Leichtigkeit geprägt. Zunächst aber wollen die Welpen die Welt entdecken, erweitern langsam ihren Bewegungsradius, und ein erstes Spielzeug kann eingesetzt werden. Die spitzen Eckmilchzähne brechen durch, und die Minischnauzen entwickeln durch das Nuckeln an den Zitzen und Zupfen an den Geschwistern eine Beißhemmung. In der Nachlaufprägung lernen sie, zu folgen und sich zu orientieren.
Bindungsaufbau zum Menschen beginnt früh
Ab der 5. Woche beginnt der Bindungsaufbau zum Menschen. Nun kann, beispielsweise mit einem Pfiff, eine erste Konditionierung beginnen. Sieben Tage später ist die Welt ein einziger Abenteuerspielplatz, in dem Körpergefühl, Gleichgewichtssinn, physische und psychische Belastbarkeit erprobt werden. Jetzt ist die Zeit gekommen, um spielerisch mit der Grunderziehung zu beginnen. Die Welpen sollte lernen Frust auszuhalten, unbedingt viel bekuschelt und auf den Arm genommen werden. Es geht vorwiegend darum, dass sie lernen, einiges zu erdulden und auch unbequeme Situationen auszuhalten. Alles, was der Hund bis ungefähr zur 12. Woche lernt, bringt Kontstanz in sein Leben. Dazu gehört auch vielen unterschiedlichen Menschen und Tieren zu begegnen sowie sich am besten in einem multikulturellen sozialen Umfeld zu bewegen.
Hundeknigge auf Augenhöhe
„Kleine Rassen sollten am besten mit zehn, größere mit zwölf Wochen in ein neues Zuhause kommen“, rät Maike Frenzel. „Der wirkliche Bindungsaufbau ist natürlich ein Prozess, der erst ab der 14. Woche beginnt. Bis zur 16. Woche steht nämlich die Ortsbindung im Vordergrund.“ Hat sich der Kleine an sein neues Heim, Frauchen, Herrchen und die Umgebung gewöhnt, stellt sich die Frage nach einer Welpengruppe. Die Hundetrainerin hält diesen Schritt für sinnvoll und bietet entsprechende Kurse an. In diesen Gruppen werden Sozialverträglichkeit und Alltagstauglichkeit gefördert. Im Spiel mit Gleichaltrigen geht es aber nicht nur um den Spaß und das Kräftemessen, sondern vor allem darum, dass der Jungspund unterschiedliche Dialekte kennenlernt. Nur so funktioniert der Hundeknigge auf Augenhöhe. Was ist erlaubt, was mag der andere nicht und wie äußert er das? Nirgendwo lässt sich die soziale Kompetenz des Vierbeiners besser einüben als in so einer gemischten Gruppe.
Welpengruppe für den Halter
Im Kindergarten für tapsige Vierbeiner ist auch der Halter gefragt. Unter fachlicher Anleitung lernt er, wie er seinem neuen Partner die richtige Orientierung vermittelt, die Führung übernimmt sowie die unverzichtbare Ruhe und Gelassenheit zeigt. Es gilt einen Blick dafür zu entwickeln, wann der fellige Freund Hilfe benötigt, die Interaktion zu anderen Hunden zu viel wird beziehungsweise es sinnvoller ist, die kleinen Kämpfe selbst auszutragen. Allein das Zuschauen ist spannender als jedes Fernsehprogramm, und dabei können die frischgebackenen Frauchen und Herrchen sehr viel lernen. Ein Einmischen ist nicht immer erforderlich. „Alles braucht seine Zeit, und niemand wird in der Gruppe zu seinem Glück gezwungen. Schüchterne Teilnehmer tauen erst nach einer Weile auf und trauen sich plötzlich von selbst mitzumachen. Kleine Draufgänger üben, sich zurückzunehmen, wenn es dem Spielgefährten zu grob wird“, erklärt Frenzel.
Weiter soll der Jungspund lernen, sich an seinem Halter zu orientieren und diesen als sicheren Hafen zu betrachten. Dazu gehört, dass er selbst Kontakt mit ihm aufnimmt und ihn um Hilfe fragt, wenn er nicht mehr weiter weiß.
Die besondere Phase in der Pubertät
Große Ratlosigkeit tritt ein, wenn Bello in die Pubertät kommt. Plötzlich scheint all das Erlernte wie ausgelöscht. Aber keine Angst, es ist da, es muss allerdings nachjustiert werden. Jetzt wird quasi überprüft, ob das Gelernte noch von Bedeutung für ihn ist. In der Junghundphase sind gerade die Rüden nicht zu unterschätzen. Wenn die Hormone verrücktspielen, kann es passieren, dass eine bisher friedliche Kommunikation mit dem Kumpel auf der Wiese plötzlich zum Fight wird. Was geschieht in dem Moment in dem Hund, und wofür ist das aggressive Verhalten da? Auf dem Weg zum Erwachsenwerden bildet der Jungschnösel ständig seine Persönlichkeit aus, lässt sich nicht mehr alles gefallen und hat Erwartungen an sein Gegenüber. Gleiches gilt natürlich auch für die „Piratenweiber“, die coolen Mädchen, die sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen.
Erwachsen und nicht sozialisiert?
Was ist mit den Hunden, deren erste Lebensmonate weniger harmonisch waren? „Was Hänschen lernt, lernt auch noch Hans – nur eben langsamer“, weiß Frenzel. „Aufgrund des psychischen und physischen Entwicklungsstands kann wahrscheinlich sogar mehr erwartet werden als beim Welpen.“ Doch ein erwachsener Vierbeiner ist kein unbeschriebenes Blatt: Was ist dem Hund bereits bekannt, und ist er das Arbeiten mit dem Menschen gewohnt? Kann er sich auf eine Aufgabe konzentrieren? Entscheidend sind seine vorherigen Lernerfahrungen
.Insbesondere zahlreiche Hunde aus dem Auslandstierschutz oder schlechter Haltung leiden an Deprivationsschäden. Sie entstehen, wenn Hunde reizarm, isoliert oder lieblos aufwachsen und nicht gelernt haben, sich mit ihrer Umwelt auseinanderzusetzen oder aber ihre körperliche Entwicklung durch die Reizarmut Schaden genommen hat. Nicht alles Versäumte kann dann aufgeholt werden. Auch Senioren können und sollen noch etwas dazulernen. Selbstverständlich unter Berücksichtigung möglicher Einschränkungen der Sinnesleistungen, des Bewegungsapparates oder einer Krankheit.
Auf die Dosis kommt es an
Trotz einer soliden Sozialisierung sollte stets die jeweilige Persönlichkeit fair beobachtet werden. Denn ein Welpe ist zu jeder Zeit ein Überraschungspaket, und letztendlich bleibt ein Jagdhund immer ein Jagdhund. Ermöglicht der Mensch seinem Hund so viele Erfahrungen wie möglich zu machen – unabhängig davon, in welchem Lebensabschnitt sich dieser befindet –, bekommt er im Gegenzug einen umgänglichen Partner. Wer bei der Sozialisierung weitsichtiger denkt und handelt, also auch Dinge mit ihm übt, die in seinem Alltag normalerweise keine Rolle spielen, profitiert davon. Er gibt seinem vierbeinigen Freund damit Stabilität und das Gefühl der Kontrolle über entsprechende Situationen sowie die dazugehörigen Emotionen. Hunde sind heutzutage vielen Reizen ausgesetzt, und es wäre falsch zu erwarten, dass sie damit alleine klarkommen. „Auch Rituale und Strukturen helfen dem Vierbeiner, gelassener zu bleiben und sich sicher zu fühlen“, erzählt die Trainerin und fügt hinzu: „Ein gut sozialisierter Hund ist mit einer guten Portion Coolness ausgestattet.“ Und genau so einen wünschen wir uns doch alle, oder? Suzanne Eichel