Es gibt eigentlich nur zwei vernünftige Gründe, einen Rüden zu kastrieren – um seine Fortpflanzung zu verhindern oder aufgrund einer medizinischen Diagnose. Ein hoher Testosteronspiegel allein ist keine Indikation und der Eingriff kein chirurgisches Wundermittel gegen typisch männliches Verhalten.

Testosteron, das Hormon, das den Hund zum Rüden macht, wird vor allem in den Hoden gebildet. Es ist nicht nur für den Sexualtrieb zuständig, sondern auch an der Energiegewinnung, dem Muskelaufbau und Fettabbau sowie der Spermienproduktion
beteiligt. Es steuert das Längenwachstum und stimuliert die Talgbildung der Haut. Außerdem
hat es einen positiven Einfluss auf seinen Gegenspieler, das Stresshormon Cortisol. Zugleich
stärkt es das Selbstbewusstsein. In der Pubertät läuft die Produktion von Testosteron auf Hochtouren. Körperlich verändert sich der kleine Kerl nun deutlich, aus dem tapsigen Welpen wird ein stattlicher Hund, der jetzt auch den Duft der weiten Damenwelt entdeckt.

Über allem hängt das Damoklesschwert OP

Los geht es mit einem Prozess, bei dem nicht nur das weibliche Geschlecht, ob läufig oder nicht, in den Vordergrund all seines Tuns und Seins rückt. Ebenfalls an der Tagesordnung: das Kräftemessen mit den Kumpels auf der Wiese. „Testosteron ist bei Weitem nicht nur für die Ausprägung der Geschlechtsorgane notwendig, sondern hat überall im Körper und beim Verhalten wichtige Funktionen“, erklärt Tierärztin und Autorin Sophie Strodtbeck. „Das Hormon hat quasi zwei Gesichter, vor allem aber steigert es das Streben nach
Status und fördert dadurch eben, je nach Kontext, aggressives oder prosoziales Verhalten.“

Aureiten ist oft ein Grund für eine Kastration
Markieren gehört zur Kommunikation der Hunde ©Paolo Cremonesi/adobe stock

Über dem jungen Rüden aber schwebt nun das Damoklesschwert der Kastration. Und an dieser Stelle muss klar gesagt werden: Sie ist kein Allheilmittel gegen Verhaltensprobleme – egal welcher Art. Heranwachsende Schnauzen können trotz Hormonchaos ein souveränes Verhalten erlernen. Sie brauchen dafür die Orientierung und Sicherheit ihres Halters. Auch wenn die Nerven blank liegen und die Schnösel ihre Ohren auf Durchzug stellen – sie sollten unbedingt ihre Erfahrungen sammeln dürfen und lernen, Problemsituationen zu meistern. Gleiches gilt im Erwachsenenalter. „Wer seinen unkastrierten Lumpi nicht unter Kontrolle halten kann, wird dies in der Regel auch bei einem kastrierten nicht können“, so die Verhaltensexpertin.

Die rechtliche Seite der Kastration

Ohnehin ist es in Deutschland nicht erlaubt, einen Hund ohne ausreichende Gründe zu kastrieren. § 6 Abs. 1 Satz 1 TierSchG verbietet das vollständige oder teilweise Amputieren von Körperteilen oder das vollständige oder teilweise Entfernen oder Zerstören von Organen oder Geweben eines Wirbeltieres und damit grundsätzlich auch die Kastration oder Sterilisation. Die Erlaubnis zur operativen Unfruchtbarmachung ist nach deutschem Recht auf wenige Ausnahmen begrenzt. So viel zur Gesetzeslage, die Realität sieht leider anders aus.

Aufreiten, Markieren und Aggression

Bei Rüden ist oft von Hypersexualität die Rede, insbesondere dann, wenn sie ständig auf Weibchen oder andere Männchen aufreiten. Im Spiel ist das völlig normal und gehört zum Trainieren des Sexualverhaltens. Wird es aber penetrant und aufdringlich, sollte es besser
unterbunden werden. Auch Stress, Dominanz und ein Aufmerksamkeitsdefizit können Gründe für dieses Rammeln sein.

Typisches Verhalten für eine Kastraion
Aufreiten kann auch penetrant werden ©Yan Jingfeng/adobe stock

Normal ist auch das Markieren – für die Vierbeiner eine wichtige Kommunikationsform. Sie hinterlassen damit Nachrichten für die anderen in der Nachbarschaft, die daraus Alter, Gesundheitszustand, Geschlecht sowie Zyklusstatus erschnüffeln. Viele Halter empfinden es als unangenehm, wenn ihr felliger Kerl alle paar Meter das Bein hebt. Alles eine Frage der Erziehung und nicht des Skalpells.

Ein weites Feld ist die Aggression mit ihren vielen Facetten. Nicht immer muss ein Problem dahinterstehen und Kastration die Lösung sein. Da Sexualhormone selbstbewusst machen und angstlösend wirken, können sich bestimmte Formen wie Ressourcen-, territoriale oder Angstaggression nach einem operativen Eingriff noch verschlimmern. Ein Verhalten wird erst dann ein Problem, wenn es sich nicht mehr steuern lässt, der Rüde permanent im Stress ist und sein Futter verweigert. Der Hund sollte zumindest die Chance bekommen, intakt durch die Pubertät zu gehen und einen guten Umgang mit seiner Sexualität zu finden.

Endgültiger Eingriff oder nicht?

Kastration bedeutet die irreversible Entfernung der Geschlechtsorgane, beim Rüden die der Hoden. Die Hunde können sich danach nicht mehr fortpflanzen. Die Operation ist nicht immer unproblematisch, denn sie bedeutet, auch in den komplexen Organismus der Tiere einzugreifen. Die Unterdrückung der Produktion von Sexualhormonen beeinflusst viele Körperfunktionen sowie das Verhalten. Je nach Indikation muss es vielleicht nicht zu einer
endgültigen Entscheidung kommen, denn für den männlichen Vierbeiner gibt es noch zwei andere Möglichkeiten. Eine Vasektomie beispielsweise – das Durchtrennen der
Samenleiter. Dadurch würde sich am Verhalten nichts ändern, nur die Fortpflanzung gehemmt.

Eine weitere Alternative stellt die chemische Kastration mittels eines Hormonchips dar. Dabei wird ein Implantat, etwa in der Größe eines Reiskorns, zwischen die Schulterblätter
und die Haut gesetzt. Es enthält den Wirkstoff Deslorelin, der die Bildung von Testosteron für eine bestimmte Zeit unterdrückt. Das ist eine gute Möglichkeit, um herauszufinden, ob etwaige Verhaltensprobleme tatsächlich hormonbedingt sind, und ob und in welchem
Maße unerwünschte Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme oder Gemütsveränderungen auftreten.

Kastration - ja oder nein?
Manche Diagnosen erfordern einen Eingriff
©adobe stock

Medizinische Indikationen

Zu den Diagnosen, die für eine Kastration sprechen, zählen Hodentumoren. Sie treten vorwiegend bei unkastrierten, älteren Hunden auf. Bei sogenannten Kryptorchiden, also Rüden, bei denen beide oder ein Hoden nicht abgestiegen sind, kann es zu Entartungen
kommen. Einige Rassen wie Boxer, Deutsche Schäferhunde, Weimaraner oder Shelties neigen besonders dazu. Perianaltumoren entstehen in der Analregion und sind meist gutartige Adenome, die rund 15 Prozent aller Hauttumoren ausmachen. Sie können aber auch als bösartige Adenokarzinome auftreten. Regelmäßige Kontrollen der Analregion sind sinnvoll.

Über 80 Prozent der männlichen Vertreter leiden unter gutartigen Prostatavergrößerungen aufgrund altersbedingter Hormonveränderungen. Das ist äußerst schmerzhaft und schränkt das Wohlbefinden der Tiere massiv ein. Weil das vergrößerte Organ auf den Enddarm
drückt, haben sie mitunter große Probleme, Kot abzusetzen. Weitere Erkrankungen wie Prostatazysten oder Entzündungen können folgen. Früh erkannt hilft oft eine medikamentöse Behandlung, in anderen Fällen ist die Entfernung der Hoden unumgänglich.

Und was passiert nach der Kastration?

Rüden haben dann ein höheres Risiko, an Diabetes mellitus zu erkranken. Fellveränderungen können ebenfalls eintreten, bei denen beispielsweise langes, weiches Haar wollig wird oder kurzhaarige Rassen plötzlich mehr Unterwolle entwickeln. „Da die Sexualhormone maßgeblich an der Regulation des Stoffwechsels beteiligt sind und den Appetit hemmen, neigen manche Hunde dazu, den Bereich ihres Idealgewichts nach oben zu verlassen“, weiß Sophie Strodtbeck aus Erfahrung. Bei verminderter Aktivität ist Übergewicht die Folge. Mit viel Umsicht lässt sich das aber verhindern.

Zum Teil widersprüchliche Informationen und die schwierige Bewertung der Vor- und Nachteile machen die Entscheidung für die Halter nicht einfach. Eine Kastration sollte stets gut überlegt sein, denn sie ist irreversibel. Suzanne Eichel

 

Vorheriger ArtikelProdukttest – Bademantel von actionfactory
Nächster ArtikelKastration Rüde? – Experteninterview